Volltext: Jahresbericht 2009 (2009)

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nur noch zwei Zenti meter und damit ist die letz te 
Etappe vor den Mikr oplastiken erreicht, die nuss- 
oder mandelgrossen Köp fe, die Besuc her des Ateli- 
ers 1938 und 1939 erwähnen.1 7 
ObnunauchfürdenletztenSchrittsodirektepsy- 
chologische Einwirkungen wichtig waren, ist schwer 
zu entscheiden. Seit 1936 war die Beziehung zu Isa- 
bel von grösster Bedeutung für Giacometti, vielfach 
anregend, scheint sie doch auf der erotisch-affektiven 
Ebene auch problembeladen gewesen zu sein, so dass 
esihmwieeineErlösungerschien,alseram18.Okto- 
ber1938aufderPlacedesPyramidesvoneinemAuto 
angefahren wurde und hospitalisiert werden musste. 
Er hat davon grossesAufheben gemacht und die Bio- 
graphen noch mehr; für Bonnefoy ist es überhaupt das 
entscheidende Vorkommnis, das ihm das volle, exis- 
tentielle Gewicht eines plötzlichen Ereignisses wieder 
spürbar ma chte und damit die Basis für die kleinen 
Skulpturen und das ganze reife Werk bot .18 Doch auch 
die allgemeine Verdüsterung der zum Krieg treibenden 
politischen Situation könnte eine Rolle gespielt haben; 
wiederholt wurde da durch Alberto von Isabel getrennt, 
bei Kriegsausbruch, nach kurzer Wiederbegegnung 
im Her bst erneut gegen Weihnachten und schliess- 
lich imJuni 1940 durch den Einmarsch der Deutschen 
endgültig bis zum September 1945. Wie aus seinen 
Briefen hervorgeht, litt er nicht nur darunter, sondern 
spürte ihre «geistige» Anwesenheit quasi physisch.19 
Dieser suchte er sich nun durch das fast zwanghaft 
unablässig wiederholte Gestalten ihres Erscheinens 
am Boulevard Saint-Michel zu versichern. Tatsächlich 
zeigen die winzigen Figürchen und noch deutlicher 
die «Femme au chariot» ihre allgemeinen Proportio- 
nen und Umrisse.20 Doch wirkt hier ein Weiteres ein: 
eine frühdynastische ägyptische Elfenbeinfigur, die 
ihm aus dem damals viel benutzten Handbuch von 
Curtius geläufig war.21 Die in hoher Intensität gege- 
bene «Stilform» floss so in sein Erinnerungsbild der 
lebendigen Präsenz Isabels ein. Auf der gegenüber- 
liegenden Seite ergänzte er mit vehementen Strich en 
in den drei Ansichten eines ähnlichen Idols überlang 
die fehlenden Beine, so dass man sich unwillkürlich 
an die jetzt einsetzenden, um 1946/ 47 kulminierenden 
Zeichnungen von zunehmend überlängten, quasi auf- 
schwebenden Frauengestalten erinnern muss.22 Wir 
haben hier ein weiteres Indiz, wie der hieratische Geist 
Ägyptens den reifen Skulpturen Giacomettis quasi als 
Gerüst oder innerer Kern eingeschrieben wird und so 
ihre amorphe Oberfläche, das ständige Entstehen und 
Vergehen zunächst im schöpferischen Prozess des 
Künstlers, sodann in der dadurch aktivierten Wahr- 
nehmung des Betrachters erst ermöglicht.23 
Damit kommen wir schliesslich zum form al Auf- 
fälligsten dieser Mikroplastiken: ihren übergrossen 
Sockeln, ein Thema, das seit ihrer Abschaffung durch 
die Surrealisten für Giacometti zentral war. Bei den 
zuvor entstandenen Köpfen gehören sie noch nicht 
zum Werk,dochjetztwerdensieessentiellund bleiben 
esfür seine ganze weitere Produktion, wenn auch in 
späteren Jahren gelegentlich in die Büsten integriert. 
Wie aus der oben zitierten Ausführung Giacomettis 
hervorgeht, kommt ihnen zunächst eine «phänome- 
nologische» Bedeutung zu: Sie machen durch den 
Massstab erst die tatsächliche Kleinheit der Figuren 
deutlich. Die Datierung der einzelnen Skulpturen ist 
zwar unsicher, aber bei zwei traditionell an den Anfang 
derReihegesetzten,hatdieeherindieTiefeundBrei- 
te gezogene Basis auch noch den Charakter eines 
Platzes und damit etwas räumlich Distanzierendes, 
wie die Standflächen des «Place» oder des «Homme 
quimarchesouslapluie»von1948.24Auchbeider 
kleineren Zürcher Figur ist der Sockel nicht quad- 
ratisch, sondern etwas in die Tiefe gezogen und die 
Gestalt leicht aus der Mitte nach hin ten gerückt, um 
diese Spannung zu evozieren. Sehr viel ausgeprägter 
pflegten die Ägypter ihren Basen die latente Dynamik 
eines solchen räumlichen Vorwurfs, in die die Statue 
schreitet, einzuschreiben, und Giacometti hat auch 
dies gelegentlich aufgegriffen.25 Sonst aber dominiert 
die Vertikale, das Aufragende, das dem aufstrebenden 
«élan vitale» zugleich Widerhalt und Impuls gibt. Es 
weist schon auf die Überwindung der Mikrodimension 
in den überschlank aufsteigenden Gestalten der klas- sischenZeitab1947,dieinihrerEnergiedastotInerte
	        
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