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dem deutschen Revolutionär von 1848. Und was war
die Antwort? „Moral? Ja, mit der Moral ist in der
auswärtigen Politik gar nichts anzufangen.“ Wie ein
Donnerschlag traf dieser Bescheid den unglücklichen
Frager. Hatte doch Immanuel Kant in seinem Traktat
über den ewigen Frieden ihn gelehrt, daß „die wahre
Politik keinen Schritt tun kann, ohne vorher der
Moral gehuldigt zu haben“. Hatte Kant doch die Ver
wirklichung einer moralischen Politik gerade allen
auf Freiheit un'd Gleichheit begründeten Staatswesen
zugeschrieben. Und nun versagte ein demokratischer
Staatsmann par excellence derartig!
Heute steht die ganze Menschheit klopfenden Her
zens vor dieser Verhängnis'vollen Frage, von deren
Beantwortung das Schicksal Europas, ja der Welt ab
hängt. Führt uns dieser schauerliche Weltbrand nicht
heraus aus der moralischen Anarchie der Staaten, so
ist dieser furchtbare Kampf umsonst gekämpft wor
den.
Es gab in Europa einmal eine Zeit, wo ein poli
tisches Ideal den Machtwillen der Herrscher beauf
sichtigte un!d beschränkte. Die Fürsten des frühen
Mittelalters fühlten sich als Mitglieder der Christen
heit gebunden an die allgemein anerkannten Regeln
und Grundsätze der religiösen Autorität. Ein Gemein
schaftsgefühl verband die christlichen Staaten gegen
über den Heiden oder Baribaren. Jedes Zuwiderhandeln
gegen die moralische Macht der Päpste zog unweiger
lich den Ausschluß des Schuldigen aus der Gemein
schaft nach sich. Der frevelnde Fürst wurde in Acht
und Bann erklärt.
In späteren Zeiten verfiel diese politische Auf
fassung mit dem Sinken der moralischen Stellung der
Päpste in Europa. Keine überstaatlich gültigen Nor
men zügelten hinfort die Machtgier der Hohen dieser
Erde. Eine moralische Anarchie drang in die Bezie
hungen der Staaten ein und verseuchte allmählich
mit ihren schädlichen Wirkungen das ganze Gebiet
der hohen Politik.
Aus diesem Hexenkessel politischen Gebarens
ward im Zeitalter der Renaissance die Souveränitäts