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Opportunisten
Ihr sagt, der Opportunist nahe euch mit den Worten eurer eigenen
Gesinnung, und erst, wenn er Macht über euer Vertrauen gewonnen habe,
in der Stunde der letzten Entscheidung, verrate er euch.
Ihr klagt, man könne die Dinge nicht voraussehen. Aber das wäre auch
die billigste Erfolgsrechnung und enthöbe euch aller Mühe. Eure Sache ist
nicht, zu prophezeien, sondern in der Verteidigung des Geistes auszuharren.
Ihr fragt, woran man den Opportunisten erkenne?
Krapotkin spricht in den „Memoiren eines Revolutionärs“ von den
Spitzeln: „Wer einigermaßen Lebens- und Menschenkenntnis besitzt, der
entdeckt bald, daß diese Geschöpfe etwas an sich haben, das ihn mahnt,
vor ihnen auf der Hut zu sein. Wer auf den sittlichen Gehalt der ihm
begegnenden Menschen achtet, der legt sich dann selbst die Frage vor: „Was
hat diesen Menschen zu mir geführt? Was in aller Welt kann der mit uns
gemein haben?“ — Ein Spitzel kann Bekanntschaften nennen, er kann die
beste, manchmal zutreffende Auskunft über seine Vergangenheit geben, er
kann sich revolutionäre Ausdrucksweisen und Ansichten vollendet angelernt
haben, aber niemals vermag er sich in die besondere, sittliche Anschauungs
weise des Revolutionärs hineinzuleben — und schon dies genügt, ihn in ge
wisser Entfernung zu halten. Alles können Spione nachahmen, nur nicht
diese sittliche Anschauung.“ —
Setzt für „Spitzel“ überall Opportunist ein, so habt ihr ihn. Ihr könnt
aber auch Konjunkturschieber, Meinungsausbeuter und Partei-Machtmensch
lesen.
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\Die Weißen c Bfätter
(Verlag Rascher <£ Cie., Zürich und Leipzig.)
In der Juninummer spricht der Herausgeber, Ren6 Schickele, ganz personen-
haft, doch menschlich selbstverständlich, von Friedrich Adler. Die Bemerkung
— sie kleidet sich bunter ein als sie wohl gemeint ist — heisst:
‘Die Zauberflöte
„Die grösste sittliche Erhebung seit Kriegsausbruch durch Gesprochenes
oder Gedrucktes verdanke ich der Rede, die Fritz Adler vor seinen Richtern
in Wien gehalten hat. Dieser schlichte Mensch, der den Mut fand, sein eigener
Held zu sein, steht am Anfang der neuen Zeit. Er sprach an seinem offenen
Grab stark und gerade und wie übergossen von innerster Heiterkeit. Er war
liebenswürdig zu seinen Richtern, er salutierte den Gegner. Er zeigte in jedem
das Merkmal großer Naturen: den fanatischen Willen zur ganzen Gerechtig
keit — die einzige Art Fanatismus, die weder dumm, noch hysterisch ist.
Auf solcher Höhe steht seine Gestalt, in gebeugter Haltung, ein wenig linkisch,
mit einem gütigen Lächeln, wie ein Denkmal. In der Wiener „Zeit“ las ich:
„Unmittelbar vor der Urteilsverkündung spielte sich eine kleine, aber
bemerkenswerte Episode ab. Der Gerichtshof hatte eben seine Beratung be
endet und schickte sich an, wieder den Verhandlungssaal zu betreten, um
das Urteil zu verkünden. In diesem Augenblick erhebt sich der Angeklagte