Volltext: Die weissen Blätter : eine Monatsschrift (2(1915),7)

868 S. Friedfaender • Der WagßaCter der Weft 
so ist ihre Faßbarkeit, ihr Zum ® Vorschein®kommen sein Zweck, den 
man verfehlt, wenn man sich's in sich selbst verlaufen läßt. Es ist 
also, in diesem Interesse aller Interessen, notwendig, daß man jedes 
Erlebnis polar beleuchte. Ist es einmal erlebt, so stelle man seine 
Extreme, sein Pro und Contra, sein Ja und Nein energisch heraus,- 
man mache sich klar, daß dieser Kontrast von der persönlich eigenen 
Mitte ausgeht, und benutze ihn zur Realisation der sichtbaren Er® 
scheinung dieses ihm neutral voranwaltenden schöpferischen Wesens. 
Der Positivist des Gewissens verantwortet sein Sein und Tun 
rigoros, er fühlt sich schuld an seinem Charakter, hält sich für dessen 
eigenen Schöpfer und — muß auf seinen Gegensatz stoßen, den 
Negativisten des Gewissens, der das auf den Kopf stellt, alle Ver® 
antwortung leugnet, sich sonach durch und durch Kreatur fühlt, nach 
dieser Seite hin, im radikalen Ablehnen jeder »Schuld«, rigoros aus® 
fällt. Ist nun der Beurteiler dieses diametralen Gegensatzes ein 
Zweifler, so wird er sich nicht getrauen können, einer der beiden 
Seiten sein Gewicht zu geben. Eine solche Entscheidung wäre hier 
auch Wahnsinn: kein Nein hebt ein Ja auf, das ist Irrtum, sondern 
leistet ihm positiven Widerstand. Den Ausschlag gibt hier nur der 
Indifferentist des Gewissens, mit Ja gegen Nein, und zwar nach 
seinem freiwilligen Belieben, das jedoch immer nur polar verfährt. 
Es steht ihm nicht frei, ungegenseitig einseitig zu sein. Folglich hat 
er allein wirklich das neutrale und kardinale Gewissen. Es kann 
also niemals gefragt werden, ob es etwas gebe, ob es das Ge® 
wissen gebe,- es gibt Alles und noch Einiges dazu. Es fragt sich 
immer nur, was in der Position, in der Negation und in der po® 
larisierenden Indifferenzierung dieser Differenz daraus werde. Eine 
»Aufhebung« des Gewissens oder der Moral ist also die lebendige 
Indifferenzierung ihrer Differenz,- eine andere Aufhebung scheint es 
zwar zu geben: aber die Durchschauung gerade dieses Scheins 
war diejenige der letzten Augentäuschung der eigenen All® 
macht über sich selbst. 
Wer die Negation des Gewissens für dessen Beseitigung hält, 
statt für das Widerspiel von dessen Position, läuft freilich herum, 
wie so viele interessante Leute, die gegen die Position ihres Ge® 
Wissens wüten, bis sie sich nicht mehr meldet. Sie scheinen dann
	        
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