gesetzt. Dieser so vielgestaltige Duktus erreicht in der Gestaltung der
beiden Gesichter einen ans Wunderbare grenzenden Höhepunkt: «mit
nichts» beinahe, mit einem Hauch von Modellierung bringt er beim Ge-
sicht der jüngeren Frau eine Charakterisierung zustande, die der durch-
geführten Fassung keineswegs nahesteht — wenn sie sie nicht sogar über-
trifft! Demgegenüber die kurzen und trockenen, dunklen Farbtupfen des
Gesichts der Älteren: auch hier nur Andeutung — aber welcher Unter-
schied in der Anwendung dieses einfachen Gestaltungsmittels «dunkle
Pinselzeichnung auf hellem Grund». Dabei zeichnet sich Leibls Strich
nicht durch bravouröse Virtuosität aus; auch die Ölskizzen von Manet,
dessen Schaffen Leibl in Paris kennengelernt hat, sind in dieser Beziehung
freier, auch summarischer, weniger dem Motiv verhaftet. Als Vergleich
kann nicht nur Manet zitiert werden; das Non-finito ist bekanntlich ein
im späten 19. Jahrhundert häufig zu beobachtendes Phänomen, und es
könnte nicht zuletzt auch an das Bildnis Lydia Welti-Escher (Eidgenössi-
sche Gottfried Keller-Stiftung, deponiert im Kunsthaus Zürich) von Karl
Stauffer-Bern erinnert werden, in dessen Nachbarschaft unsere Neuer-
werbung zuerst plaziert wurde. Was Leibls Skizzieren jedoch von den
meisten Gestaltungen ähnlicher Art unterscheidet, ist, dass er die getönte
Fläche, nicht den Kontur betont. Diese Eigenart lässt sich gleichermassen
bei seinen Bleistiftzeichnungen feststellen, die oft grösseres Gewicht auf
die hell und dunkel unterscheidende Schraffierung legen als auf die Um-
risslinien. Und das gleiche gilt auch für den Entwurf zum Bild Dre Tisch-
gesellschaft (Köln, Wallraf-Richartz-Museum) von 1872. Wie das Kirchen-
bild hat der Künstler auch dieses Werk zweimal in Angriff genommen,
wobei er eine erste Fassung in einem verwandten Grad der Vollendung
als eigenständige Version signiert hat.
Nach Abschluss der Arbeiten am Bild Drei Frauen in der Kirche suchte
Leibl mit den Wildschützen (1882-86) den bereits erreichten Grad rea-
listischen Gestaltens sogar noch zu übertreffen. Nach erneuter jahrelanger