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sehen findend. Sich zum letzten Male verlierend (wie eine späte Rache für
jenen Aufschrei der zutiefst Gepeinigten : „Ich bin ja auch eine Kreatur!“
an das extremste Gegenspiel: das Weibchen, das Spiegeltierchen, Schmücke-
fäntchen, Trugbild, er der Einsamkeitssucher an das uneinsamste aller Wesen,
an ein flimmerndes Gerät voller Begierden, Wünsche, Unruhen, Lüste. An
ihr erleidend den schlimmsten Golgathaweg des Mannes durch Kletten
und Schlamm und Pfützen, Aussatz bis in die Seele juckend, das nachträg-
trägliche Martyrum, wo dem Banalsten grade der aus Vollkommenheit
Schwache, von innrer Hellsichtigkeit Bünde am kläglichsten erliegt. -(Ich
muss hier den ganzen Komplex wiederholen, mit dem Wassermann das Pro
blem bannt; „Daniel spürte es, dass sie enttäuscht war, er hatte Angst
davor gehabt. Die Angst wuchs, denn alles, was er tat und sagte, vermehrte
ihre Enttäuschung sichtlich. Aus Angst wurde er nachgiebig, wo er früher
unerbittlich gewesen wäre. Der Unterschied der Jahre machte ihn geduldig
und jeder Einrede fügsam; er fürchtete, ihr nicht so viel Liebe geben zu
können, wie sie in ihrer Frische und natürlichen Derbheit begehrte, deshalb
verzichtete er auf manches, was er vordem nicht hätte entbehren, ertrug er
manches, was er nicht hätte ertragen können. Es bedurfte nur einer
Stunde in der Nacht und Dorothea hatte ihm die Zusage abgeschmeichelt,
dass er die Stelle des alten Herold übernehmen werde. Er, so karg an
Worten, wie in der Aeusserung von Gefühlen, erlag dem kätzchenhaften An
schmiegen, dem übermütigen Spott, der prickelnden Hurtigkeit eines jungen
Leibes. Da walten dunkle Mächte, die zwischen Mann und Weib Abhängig
keiten stiften. Da ist nichts berechenbar, nichts mehr dem angeborenen
Wesen gemäss, da kann, in einer Stunde der Nacht, die heiligste Wahrheit
eines Lebens zur Lüge umgebogen werden.“) Bis die Katastrophe wie
Sturzbach hereinschlägt, alles überschwemmend, Werk und Eitelkeit tötend,
und in Dialogen mit dem unheimlich-heimlichen Widerpart, der ums erlö
sende Stichwort weiss, Blitz .herbstlicher Weisheit Wunder formt. Da ver
brennt bis zuletzt verschonte Eigensucht im äussersten Winkel wie Zunder:
„Bilde dir nicht ein, dass du das Leid der Welt getragen hast, dein eignes
hast du getragen, liebend-lieblos, [selbstlos-selbstsüchtig, Unmensch, der du
bist, Unbürger! — Deine Musik kann den Menschen nichts geben, solang
du in dir selbst gefangen bist. Fühl ihre grenzenlose Einsamkeit! Schau
sie an! schau sie an!“ Werfelische Akkorde, sogar von Wassermann! —
Ergreifend schlicht das Ende im Entlegenen. Im elterlichen Häuschen, in
dem kleinen Orte des Beginns, Sichrüsten zum entgiltigen Abstieg. Ein paar
Schüler von ganzem Herzen, ein fünfzigster Geburtstag mit stillem Gedenken,
Gebet in Orgelharmonieen, abendlich bedeutungsvollem Wandern durch die
Wiesen . . .
4.
Darüber hinaus aber ist zweierlei zu notieren.
Die Reinlichkeit, die letzten Endes zu höheren Regionen klimmen muss
als die sind, welche das neue Gesetz, auch nur ein Notbehelf, freilegte:
„ . . . irgendwo, fast möcht’ ich sagen in Gott, ist es nicht wahr. Und
wenn wir bessere Menschen wären, Gottesmenschen, dann müssten wir
verzichten. Dann wär es schön zu leben; wie über den Wolken lebte man
froh und rein.“ Und eine Verinnerlichung, die die Sünden des alten „Wiens“
vergeben sein macht und an die Nieren geht: „Talent ist ein Flederwisch.
Was von den Fingern ausgeht, ist vom Uebel. Wer ein Ziel hat und dafür
leiden kann, den brauchen wir . . .“
Und wahrscheinlich sind diese zwei Sätze mehr wert als alles Andere, Gut
oder Schlecht-Komponierte, Selbst-Gefällige oder Selbstlose, Impressio
nistische, Expressionistische der beiden Romanbücher. Weil von diesen
Sätzen Wirkungen ausgehen könnten wie von Peter Altenberg. Als welcher
von sich sagt: „Ich lehre die Menschen nämlich seit 17 Jahren in meinen
Büchern immer dasselbe: Seele zu bekommen!“ Max Herrmann (Neisse.)