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Die Untersuchung der Kriegsursache in Verbin
dung mit den Kriegszielen führt uns also weiter zu
einer ganz neuen Schuldfrage —, zu einer Schuldfrage
der Zukunft, deren Formulierung schon heute von
großer historischer Wichtigkeit ist. Bisher existierten
nur zwei Scbuddfragen:
die Sehuldfrage aus der Vergangenheit, 'das heißt
aus der entfernteren Vorgeschichte des Krieges;
die Sehuldfrage aus der Gegenwart, das heißt aus
der unmittelbaren Vorgeschichte des Krieges.
Beide Schuldfragen habe ich in „J’accuse“ mit einem
glatten Schuldig zu Lasten Deutschlands und Oester
reichs beantwortet.
Die dritte Sehuldfrage, die, je mehr der Krieg wor
und hoffentlich seinem Ende zuschreitet, um so akuter
wird, ist die Frage der zukünftigen Gestaltung Euro
gas. Diese Frage lautet: Soll Europa auch in Zukunft
unter der bisherigen Völkeranarchie, unter den Macht
rivalitäten der führenden Staaten, unter dem ruinösen
Zustande des bewaffneten Friedens, der nichts anderes
als ein latenter Krieg ist, weiter leben? Oder soll an
Stelle dieses Gewaltzustandes ein Reohtszustahd treten,
der den Frieden und die Sicherheit aller durch organi
satorische Einrichtungen gewährleistet? Deutschland
erstrebt die* Fortsetzung der bisherigen Anarchie,
innerhalb deren es seine eigene Sicherheit durch
Machtvergrößerung erhöhen will. Deutschlands
Gegner erstreben den Rechtszustand. Die Frage, ob
Deutschland auch mit diesen Zukunftsbestrebungen
eine neue, eine dritte schwere Schuld auf sich lädt,
hängt von der Vorfrage ab, ob es tatsächlich im
Sommer 1914 von seinen Gegnern überfallen worden
ist oder nicht. Ist es überfallen worden, so wäre der
Gedanke an seine einseitige Zukunftssicherung zwar
verfehlt, weil das Mittel dem Zweck nicht entspricht,
er wäre aber nicht verbrecherisch, würde also zu den
übrigen Schuldposten keinen neuen gleichwertigen ge
sellen. Ist es aber nicht überfallen worden, so ist sein
Gedanke an einen deutschen Gewalt- und Eroberer
frieden ein Verbrechen an der Zukunft —, ein Ver
brechen genau so schwer wie die, die es in der Ver-