Werke zu sehen ist. Die Skizzenhefte aus der frühen
Pariser Zeit'® lassen die Orientierungslosigkeit erken-
nen, die Alberto später als die Schwierigkeiten beim
Aktzeichnen charakterisiert: die Unmöglichkeit, das
Ganze einer Figur zu erfassen ebenso wie die Detail-
formen, bei denen sich zwischen zwei Punkten eine
unüberbrückbare Leere, quasi eine «Wüste Sahara»
von Sandkörnern öffnete.‘ In Blättern von 1922 zei-
gen sich diese Auflösungstendenzen und das An-
kämpfen dagegen; in einer Selbstbildniszeichnung,
vermutlich von 1923,'® erscheint die pulverisierte Mas-
se wie in einer prekären kristallinen Verdichtung koa-
guliert. Der sehr intensiv durchgearbeitete Kopf des
Gemäldes bietet die Parallele im Pinselwerk: kurze,
spröde Striche treten zu einem ebenso brüchigen wie
kompakten Ganzen zusammen, das nur durch die
stark modellierende Lichtführung entschieden dreidi-
mensional wirkt. Die Behandlung der Büste hingegen
zerfällt in lineare Elemente, schwarze Striche, wie sie
bereits in den scharfen Umrissen des ganzfigurigen
Bildnisses Diegos von 1922 auftreten, und ın unbe-
stimmte Farbflächen, so dass der Körper kaum mehr
als geschlossen plastische Masse zu lesen ist. Es han-
delt sich nun um etwas prinzipiell anderes als die
flächenbezogene malerische Auflösung der plasti-
schen Form in der impressionistischen Tradition; viel-
mehr kündigt sich die quasi auf ihr Inneres durch-
sichtige, unplastische plastische Behandlung an, die
das reife Werk charakterisieren wird. Sie findet ihren
erste markante Formulierung in den sorgfältigen Akt-
zeichnungen, die den Körper halb in einer alten ana-
Iytischen Akademietradition, halb im Sinne des Ku-
bismus in ein stereometrisches Netz von Kraftlinien
auflöst.
Auch auf einer anderen Ebene problematisiert. Gia-
cometti das scheinbar fraglos Gegebene der Körper-
welt: indem er sich zwischen zwei Spiegel stellt, ver-
deutlicht er nicht nur das Bild als Spiegelbild, sondern
er öffnet einen «metaphysischen» Abgrund endloser
Spiegelungen, in dem die Möglichkeit einer vollstän-
digen Erfassen des Wirklichen verschwindet. In einer
metaphorischen Gestaltung bringt er zur Anschauung,
was sein späteres Werk kennzeichnen wird: die Suche
nach der Wiedergabe, nach dem Kopieren des Gese-
henen, des Gegenübers und der Unmöglichkeit, dies
abschliessend zu leisten. Nach dem Kriege wird er ei-
ne andere, direktere Form finden, den virtuellen
Raum der Vorstellung und den Vorgang des Sehens
darzustellen.” Obwohl das Spiegelbild seit alters das
Paradigma der Mimesis, der Nachahmung des Sicht-
baren ist und im Narziss über der spiegelnden Quelle
seinen mythischen Ahnherrn fand, zeigten es die
Künstler nur selten im Bild und noch seltener in
Selbstportraits.” Gleich zu Beginn des neuzeitlichen
Realismus steht freilich der Konvexspiegel im Hinter-
grund der Arnolfini-Hochzeit mit dem zeugnishaften
Reflex des Malers und der Inschrift «Jan van Eyck fuit
hic». Auch in der Rüstung des heiligen Georgs der
Madonna des Kanonikus van der Paele zeigt er sich und
in gleicher Weise wird man in manchen Stilleben des
17. Jahrhunderts noch die heimliche Gegenwart des
längst vermoderten Meisters finden. Denn im Spie-
gelbild spitzt sich die Prätention der Präsenz gegen-
über dem Abbild zu: der Widerschein existiert hier an
sich nur, solange das Urbild vor dem Spiegel weilt.
Dieses Momentane wird mit dem Impressionismus
wichtig, dessen Gründerfiguren sich freilich kaum
selbst portraitierten und an reflexiven Aussagen ın
ihren Bildern nicht interessiert waren. Hingegen the-
matisierte der wichtigste Selbstbildnismaler in ihrer
Tradition, Lovis Corinth das eigene Spiegelbild, wie
ausgerechnet die beiden Gemälde in der Sammlung
des Kunsthauses zeigen.” Ähnlich verdeutlichten ge-
legentlich Munch und Bonnard ihre Reflexe,” doch
Giacomettis abgründige Endlos-Spiegelung haben wir
in keinem anderen Selbstbildnis gefunden.
1961 bemerkte Giacometti in einem Interview mit
Pierre Schneider,” das er beim Malen eines Selbst-
bildnisses die Unmöglichkeit einer realistischen Wie-
dergabe erlebt und er deshalb dieses Bemühen ganz
aufgegeben habe. Wir kennen diese Leinwand nicht —-
es sei denn, es handle sich um das Portrait Diegos von
1925, auf das seine weiteren Hinweise passen wür-
den.” Früher setzte er diesen Umbruch in Bezug zum
Scheitern beim Abbilden der Mutter — jedenfalls er-
scheinen 1925 sowohl diese wie die ganze Familie auf